Musik ist mehr.
Ich meine: mehr als alles, was ich hier aufschreiben kann. Musik hat einen Mehrwert, der mit Worten nicht einzuholen ist. Und Musik ist mehr als die „Funktion“, die ihr im Gottesdienst zugewiesen wird.
Musik ist – wie auch der Tanz – eine der Grundanlagen unseres Menschseins: ein Geschenk sozusagen, das der Schöpfer uns am sechsten Schöpfungstage gemacht hat. Noch bevor wir Menschen zu sprechen gelernt haben, haben wir gesungen.
Und deshalb gehört Musik unabdingbar zu unserem Gottesdienst – nicht nur als „Ausschmückung“ und nicht nur, um geistliche Texte singbar zu machen. Musik ist die angemessene Ausdrucksform für unseren Dank an den Schöpfer, unseren Gott.
Und von all dem, was wir im Gottesdienst tun, ist Musik dasjenige, was es sicher auch im Himmel noch geben wird (und das Abendmahl natürlich).
Ist das für uns noch vorstellbar, dass es einmal eine Zeit gab, in der Pfarrer „Chorstücken“ den Platz am Anfang des Gottesdienstes und vor der Predigt zuwiesen, „damit sie die Liturgie nicht stören“?!
Es ist das Verdienst der liturgischen Erneuerungsbewegungen vor knapp hundert Jahren, dass sie den heilsamen Bogen der Messe wiederentdeckten. Dieser Bogen spannt sich vom Kyrie (vor Gott bringen, was uns belastet) über das Credo (uns bewusst halten, woran wir glauben) zum Dona nobis pacem (Gott um Frieden und Heil bitten). Und diesen Bogen spannen wir nicht in unserem Kopf – den erleben wir mit Herz, Seele und Gemüt, im Singen und im Hören von Musik.
Im Grunde ist unser Gottesdienst eine Messkomposition für drei Stimmen: Chor, Gemeinde und Liturg. Schön wird das am Beispiel des Kyries deutlich, das wir in der Trinitatiszeit singen: Unser Wechselgesang zwischen Liturg und Gemeinde ist eigentlich unvollständig – der Part des Chores fehlt und wird vom Liturgen (quasi als „Notlösung“) übernommen. Entfaltet sieht unsere Kyrie Folgendes vor:
Liturg: Herr Jesus Christus, du bist für uns als Mensch geboren:
Chor: Kyrie eleison.
Gemeinde: Herr, erbarme dich.
Liturg: Du bist für uns am Kreuz gestorben:
Chor: Christe, eleison.
Gemeinde: Christe, erbarme dich.
Liturg: Du bist für uns vom Tod erstanden:
Chor: Kyrie eleison.
Gemeinde: Herr, erbarm dich über uns.
Liturgie ist eigentlich ein "Trialog": Im Zusammenspiel von Chor/Orgel, Gemeinde und Liturg wird der Bogen der Messe gestaltet und (wenn es gut geht) seine heilsame Kraft erfahren. Gerade weil Musik uns Menschen in einer Tiefe anzusprechen vermag, in die Worte nicht reichen, geht von der Liturgie eine heilende Kraft aus: Musik vergegenwärtigt eine Harmonie, die wir in unserem fragmentierten Leben sonst verlieren.
Musik ist mehr – aber sie ist nicht alles.
Musik bleibt andererseits auf das Wort angewiesen. Weil Musik deutungsoffen ist. Die gleiche musikalische Sequenz, die Gottes Güte preist, kann auch für Weinbrand werben. So ist der Gottesdienst ein fein gewebtes Zusammenspiel von Musik und Wort, die sich gegenseitig ergänzen, interpretieren und in beglückenden Momenten auch zu einer höheren Harmonie verbinden.
Hans-Christian Beutel
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