Lesen hält Leib und Seele zusammen
„Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen“, so sagt der Volksmund. „Lesen auch“, füge ich hinzu, nachdem ich das schmale Buch von Johanna Haberer gelesen habe: „Die Seele - Versuch einer Reanimation“. Ein kleines, blitzgescheites Buch (Westentaschenformat, 152 Seiten) über ein großes Thema der Menschheit.
Ein vergessenes Thema - so die Diagnose der Theologin und Medienethikerin Johanna Haberer. Aus dem wissenschaftlichen Betrieb von Psychologie und Philosophie ist der Begriff „Seele“ herausgefallen: zu unpräzise, zu kontraproduktiv und vielleicht auch zu subversiv, um mit ihm streng logisch operieren zu können. Gerade das macht diesen Begriff aber wertvoll, sagt Johanna Haberer und spricht von der Seele des Menschen als dem »unverwechselbaren Innenraum des Einzelnen«, der »einzigartig wie der Fingerabdruck« ist und »in dem der rote Faden des Lebens, in dem die Erinnerung festgehalten wird«, so dass aus »einem Menschenleben ein Unikat wird«.
Der Begriff „Seele“ steht für die Unverfügbarkeit dessen, was Menschsein ausmacht. Und gerade die ist bedroht: Digitalisierung und Künstliche Intelligenz vermessen den Menschen und machen ihn berechenbar, manipulierbar. Mit Sorge beobachtet die Autorin, wie Begriffe aus dem Umfeld von Computern und Programmierung in unsere Alltagssprache einwandern: Wir „canceln“ ein Treffen; wir haben „auf dem Schirm“, was wir jemandem versprochen hatten; wir „speichern ab“, was uns jemand sagt und brauchen ein „Reset“ statt eines Neuanfangs. Was uns wichtig ist, vertrauen wir eher der „Cloud“ als dem Himmel an. Wie verändert sich da gerade unsere Selbstwahrnehmung als Menschen?!
Zeit also für die Einsicht, das wir Menschen mehr sind als die Summe unserer Daten! Und so begibt sich Johanna Haberer auf eine Spurensuche in die philosophischen Denkschulen und biblischen Überlieferungen, befragt Alltagssprache, liest poetische Texte aus fernöstlicher Weisheit und abendländischer Literatur. Bis hin zur Präsidentschaftsinauguration von Joe Biden 2021 führt sie ihre Suche: dort »wurde wohl kein Wort häufiger verwendet als die „Seele“. Fast alle Redner sprachen davon, dass die „Seele Amerikas“ zerrissen sei und nun geheilt werden müsse. Jeder Zuschauer und jede Zuhörerin - und es waren Milliarden - wusste, was gemeint war und doch wären alle ins Stammeln geraten, hätte man sie gefragt, was genau so eine Seele denn sei.«
In zwei Richtungen entfaltet die Autorin den Ertrag ihrer Suche: Sie stellt die Seele als die große Netzwerkerin unseres Lebens vor, die uns mit Menschen nah bei wie fern ab von uns verbindet. Und sie beschreibt die Seele als den Raum, um den herum unser ganz individuelles Leben Gestalt gewinnt.
Die Seele verleiht uns Menschen Einzigartigkeit und Würde. Unserer Seele verdanken wir den Élan vital, diese funkelnde Lebensenergie. Und durch sie erschließt sich uns die spirituelle Tiefendimension unseres Lebens. Gib deiner Seele Raum zum Atmen! Schließ sie nicht ein in die Echokammern der sozialen Netzwerke. Öffne sie für die Begegnung mit Gott und den Mitmenschen.
Es liest sich schnell, das Buch von Johanna Haberer. Und es liest sich leicht, ihr Buch über die Seele: Fachsprache so weit wie nötig, metaphorische und poetische Sprache so weit wie möglich. (Die vom Thema her naheliegende Versuchung, ins Blumige abzudriften, vermeidet Johanna Haberer gekonnt).
Und es liest sich auch beim zweiten oder dritten Lesen noch anregend und aufschlussreich. Mir hat sich zum Beispiel erst beim dritten Lesen erschlossen, wie genial das Bild ist, mit dem Johanna Haberer ihren Essay beginnt und mit dem sie die Seele als die große Netzwerkerin unseres Lebens vorstellt. Was für ein Bild das ist? Das wird nicht „gespoilert“ - ein bißchen Entdeckerfreude muss bleiben, wenn es um die Seele geht!
Johanna Haberer: Die Seele - Versuch einer Reanimation
Claudius Verlag, München 2021 - 152 Seiten
ISBN 978-3-532-6286-4
Pfarramt Hallesche Straße 15a, 06366 Köthen
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