Gnade sei mit uns und Frieden, von Gott, unserem Schöpfer, von Jesus Christus, unserem Erlöser, und vom Heiligen Geist, Gottes guter Kraft in unserem Leben. Amen.
Liebe Schwestern und Brüder,
auf der Titelseite unseres Liedblattes ist eine Plastik des Bildhauers Ernst Barlach abgebildet: Der Zweifler. Ein Mensch voller Skrupel. Die Anspannung seines Körpers überträgt sich fast physisch auf uns. Auf die Knie gesunken wirkt dieser Zweifler als wolle er beten.
Den Kopf geneigt mit einem in sich gekehrten Gesicht wirkt dieser Zweifler, als denke er intensiv nach.
Es sind die Hände, die ineinander verschlungenen Hände, die den Mann ganz augenscheinlich als einen Zweifler ausmachen: Die linke Hand hält die rechte fest – als wäre dieser Mensch im Begriff, mit seiner rechten Hand eine Handlung auszuführen, die die linke mit aller angespannten Kraft verhindern wolle. Ein Mensch, der hin und her gerissen ist und nicht weiß wohin mit der in ihm aufgestauten Energie. Ein Mensch, dem ich wünsche, die lebensweisen Worte unseres Predigttextes könnten ihn erreichen. Ich lese uns Verse aus dem Buch des Predigers Salomos im 7. Kapitel:
Dies alles hab ich gesehen in den Tagen meines eitlen Lebens: Da ist ein Gerechter, der geht zugrunde in seiner Gerechtigkeit, und da ist ein Gottloser, der lebt lange in seiner Bosheit. Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest. Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor deiner Zeit. Es ist gut, wenn du dich an das eine hältst und auch jenes nicht aus der Hand lässt; denn wer Gott fürchtet, der entgeht dem allen.
Gott segne uns durch sein Wort!
Liebe Schwestern und Brüder,
begütigend wirken diese Worte auf mich. Begütigend und wohl abgewogen. Ein im guten Sinne abgeklärter Mensch spricht hier.
»Höre zu, ich will Dir sagen, was ich im Laufe meines flüchtigen Lebens gesehen und erkannt habe.« So setzt dieser weise Mensch ein.
Und fährt dann fort: »Wir haben doch gelernt, dass sich das Gute im Leben auszahlt. Und dass dem Bösen irgendwann die Strafe folgt. Unser Gerechtigkeitsempfinden will, dass es so sei.
Aber es ist nicht so!«
Da gibt es Menschen, die sich für etwas ganz zweifelsfrei Gutes einsetzen:
- für gerechte Chancen auch für Menschen auf der Schattenseite des Lebens;
- für die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen, sauberes Wasser, klimaschonende Energie;
- für die Beendigung akuter Kriege und den Abbau von Kriegsursachen.
Dafür setzten diese Menschen sich mit all ihrer Kraft ein, scheitern und zerbrechen.
Auf der anderen Seite leben Menschen, die all das, was Menschen wertvoll sein kann, korrumpieren. Sie werden immer mächtiger. Verurteilte Straftäter und skrupellose Geheimdienstagenten sind Präsidenten einflussreicher Länder und hebeln das Völkerrecht aus, so dass sich Kriege wieder lohnen.
Wenn Du Dir das bewußt machst, dann kann die Verzweiflung nach Dir greifen! Du stehst dann da, wie dieser Zweifler von Ernst Barlach. Die rechte Hand will dreinschlagen – mühsam hindert die linke sie daran. Aber innerlich zerreißt es dich.
Ich will Dir einen Rat geben:
"Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest. Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor deiner Zeit."
Sei nicht allzu gerecht, das heißt: Werde nicht fanatisch. Werde nicht hart und selbstgerecht. Bewahre Dir Dein sensibles Gerechtigkeitsempfinden, in dem Du es nicht verabsolutierst. Besser kann ich das eigentlich nicht sagen, als ein Liedtext von Wolf Biermann es fasst:
Du, lass dich nicht verhärten
In dieser harten Zeit
Die allzu hart sind, brechen
Die allzu spitz sind, stechen
Und brechen ab sogleich
Und brechen ab sogleich
"Ermutigung" heißt dieses Lied –
Du, lass dich nicht verbittern
In dieser bitt′ren Zeit ...
Du, lass dich nicht erschrecken
In dieser Schreckenszeit ...
Du, lass dich nicht verbrauchen
Gebrauche deine Zeit ...
Sei nicht allzu gerecht und allzu weise – damit Du nicht selbstgerecht und dogmatisch wirst.
Vermeide auf der anderen Seite aber auch, in das Gegenteil umzuschlagen und gottlos zu werden. Gottlos und ein Tor. Damit Du nicht abgleitest auf die Seite des Bösen, damit Dein sensibles Gerechtigkeitsempfinden nicht stirbt, damit Du Dich nicht abfindest und Dich statt mit einem guten Gewissen mit einem salvierten Gewissen abfindest.
Es mag sein, dass Trug und List
eine Weile Meister ist ...
so sagt es ein anderer Liedtext – ein Lied, das wir gleich singen werden (EG 378):
Es mag sein, dass Frevel siegt,
wo der Fromme unterliegt ...
Es mag sein – die Welt ist alt –
Missetat und Missgestalt
sind in ihr gemeine Plagen.
Vermeide es, Dich dieser Welt gleichzustellen. Tu weiter, was Dein Gewissen Dir rät und Dein sensibles Gerechtigkeitsempfinden Dir nahelegt.
Das ist ein schmaler Grad, auf dem sich derjenige bewegt, der sich ohne zu verhärten weiter für Gerechtigkeit einsetzt.
Das ist ein schmaler Grad, auf dem sich diejenige bewegt, die sich ohne zu verbittern weiter für die Bewahrung der Schöpfung einsetzt.
Das ist ein schmaler Grad, auf dem sich Menschen bewegen, die sich für Frieden nach den Maßstäben des Völkerrechtes einsetzen.
Das ist ein schmaler Grad und das ist er von jeher gewesen.
Der schmale Grad, den die Seligpreisungen der Bergpredigt beschreiben. Der schmale Grad, auf dem zu gehen Jesus uns zutraut.
Dieser schmale Grad ist ein Weg, für den das tagtägliche Gespräch mit Gott eine große Hilfe ist:
- das Gebet, mit dem ich Bitterkeit und Härte vor Gott aussprechen kann;
- das Gebet, mit dem ich Orientierungsschwäche und Mutlosigkeit vor Gott eingestehen kann;
- das Gebet, mit dem ich Mitgefühl und Trauer mit Gott durchleben kann;
- das Gebet, mit dem ich Wünsche und Ideen, denen ich noch nicht recht traue, vor Gott ausprobieren kann.
Ich meine, das genau ist es, was unser Predigttext rät, wenn es in ihm heißt:
Es ist gut, wenn du dich an das eine hältst und auch jenes nicht aus der Hand lässt; denn wer Gott fürchtet, der entgeht dem allen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsre Vernunft, der halte unsern Verstand wach und unsere Hoffnung groß und stärke unsrer Liebe. Amen
Septuagesimae,16.2.2025
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